AM102 – Brief an Walter Gropius
Toblach, Mittwoch, 23. August 1911


23 Aug

Mein .

Was auch immer kommen mag – versteh’ mich! – Ich meine[,] kann ich einmal über eine Mauer nicht hinweg zu Dir – so warten wir eben – bis diese Mauer sich dematerialisirt hat[.] —

Was – aber – wenn diese Mauer einmal unüberwindlich würde?!! Was weiß der Mensch von seinem Wichtigsten –

nämlich von seinem Fühlsleben. – —

Du bist ein so rein stark empfindender Mensch – aber auch Du wirst Schwankungen unterworfen sein. —

Die Zeit Deines Hierseins war ungetrübt schön – und ich ventilire schon wieder heftig ein baldiges Wiedersehen. —

Wo ich von hier hingehe, weiß ich nicht – weißt Du[,] ich komme mir vor, wie ein Thier an einen Baum

gebunden. Jahrelang – und der Strick wird entfernt – so steht es immer noch geduldig nah am Baum u. rührt sich nicht weg. Ich verstehe meine Freiheit noch nicht. Ich glaube immer – aus irgend einem Grunde und für einen lieben Menschen müsse ich handeln – und soll es ja nun für mich allein thun. – Ich bleibe also hier, so lange es schön ist und mir die langen Abende nicht zu öde werden – dann möchte ich ein bissel südlich gehen.


Vielleicht nach Brioni. Dort eventuell könntest Du hin kommen – wenn es Dir dann noch passt. Ich weiß aber heute nicht genau, wann.

Sicher ist – in meinen Tiefen und Untiefen sollst Du mich kennen lernen.

— — — —

Schreibe – — und lass’ es Dich die Mühe nicht verdrießen. Liebe mich —

Schreibetelegraphire nicht. Aber viel schreiben[.] —


Apparat

Überlieferung

, , , .

Quellenbeschreibung

1 DBl. (4 b. S.) – Briefpapier.

Beilagen

Umschlag, , Berlin-Wilmersdorf | Nicolsburgerplatz 4. G. IV | Herrn Walter Gropius; PSt. (lt. , S. 532, Nr. 173): TOBLACH 2 | 23.VIII.11 – 1 | * d *; von WG mit einer 6a versehen (Zur Nummerierung von Alma Mahlers Briefumschlägen).

Druck

Erstveröffentlichung.

Korrespondenzstellen

Beantwortet durch WG190 vom 24. oder 25. August 1911 ([„]Die Art u Weise zu sein wechselt bei einem leidenschaftlichen Menschen 10x am Tage“): auch Du wirst Schwankungen unterworfen sein, WG191 vom 24. oder 25. August 1911 (Welche Mauer hemmt Dich): Ich meine[,] kann ich einmal über eine Mauer nicht hinweg zu Dir – so warten wir eben – bis diese Mauer sich dematerialisirt hat, WG192 vom 24. oder 25. August 1911 (\welche Mauer den Weg zu mir hindert/): Ich meine[,] kann ich einmal über eine Mauer nicht hinweg zu Dir und WG193 vom 24. bis 27. August 1911 (Für Italien habe ich bestimmt vom 8–16 September Zeit, danach schwerlich): dann möchte ich ein bissel südlich gehen. Vielleicht nach Brioni. Dort eventuell könntest Du hin kommen.

Datierung

Schreib- und Absendedatum: „(1911)“ (fremdschr. Datierungsversuch nach Übergabe an , ).

Datiert durch AM und Poststempel: 23[.] Aug[ust] 1911.

Übertragung/Mitarbeit


(Bettina Schuster)
(Elisabeth Behnle)


A

Zeit Deines Hierseins – für 3 Tage (AM97 vom 11. August 1911), Anfang August, s. AM96 vom 31. Juli 1911: Richte Dich für den 4–5. [August].

B

Freiheit – seit Tod am 18. Mai 1911.

C

Ursprünglich: musse.

D

Brioni – italienische Bezeichnung für die kroatische Inselgruppe Brijuni.